Charmante Unbekümmertheit – nicht nur eine österreichische Tugend

Ein langersehnter Termin führt mich ins Herz der Autoindustrie. Ich soll in der Zentrale eines führenden Automobilherstellers vorstellig werden. Ich fühle mich wie am Olymp und habe mich ehrfürchtig und dankbar auf dieses Gespräch vorbereitet. Ich stelle mir vor, wie ich durch die heiligen Hallen wandeln werde, in einem riesigen Glaspalast, umgeben von der modernsten Sicherheitstechnologie, riesigem Empfangsbereich und von Modellen der neuesten Autotypen, die in der Wintersonne funkeln.

Ich bemerke, dass ich viel zu früh da sein werde und freue mich schon darauf, in einer großen Lounge unter den umsichtigen Augen des Empfangspersonals auf einer bequemen, ledernen Couch staunend warten zu dürfen.

Als ich aus dem Taxi steige, traue ich meinen Augen nicht. Ich frage den Fahrer, ob das tatsächlich die richtige Adresse sei. Ja freilich, das sei alles das Gelände des besagten Automobilherstellers. Ich stehe in einer Gasse vor einem zwar größeren, aber doch normal anmutenden Autohauses. Daneben befinden sich mehrere Backsteinhäuser, die wie Mietshäuser aussehen. Vom Glaspalast mit überdimensionalem Markenemblem keine Spur.

Ich suche das Portal zu der am Zettel stehenden Adresse und finde einen stinknormalen Hauseingang. Unten an der stinknormalen Hauseingangstür eine lapidare Sprechanlage mit zwei oder drei Tasten. Zentraleinkauf, Personalabteilung, Betriebsrat.

Ich muss zum Zentraleinkauf, was aber egal ist, denn die Türe ist sperrangelweit offen und mit einem Keil fixiert, sodass sie nicht zufallen kann. Im Hausflur (ca. 20 m2) endlich etwas, das auf die Tätigkeit der Firma hinweist. Ein (vermutlich superwertvoller) alter Automotor in einer Glasvitrine. Keine Kameras, keine Alarmanlage.

Ich suche vergeblich einen Empfang. Ungehindert kann ich bis ins Treppenhaus des zum Bürohaus eher umfunktionierten, aus den frühen 70ern stammenden, Gebäudes vordringen. Eine offene Wendeltreppe führt in zwei Stockwerke.

Das kann es jetzt aber nicht sein. Ich muss mich irren. Also noch einmal zurück in den Hausflur. Was habe ich übersehen?

Im Hausflur hängen Schaukästen mit Aushängen des Betriebsrats, Ankündigungen von Firmenevents etc. Da! ganz hinten in der Ecke eine kleine Tafel, die beschreibt, welche Angestellten in welchen Zimmern in welchem Stock sitzen und welche Tätigkeit genau dort ausgeübt wird. Sehr praktisch, das erleichert den unerlaubten Zugriff auf Personaldaten erheblich (aber wer würde denn schon so etwas klauen wollen). Unter der Tafel befindet sich offenbar so etwas wie ein elektronisches Zutrittsberechtigungssystem. Irgendwann einmal dürfte es dafür gedacht gewesen sein, dass man seinen Mitarbeiterausweis hinhält, dann geht die Türverriegelung auf. Über das Display ist ein Klebeband geklebt und die Tür steht sperrangelweit offen.

Ich bin baff. Ich kann doch nicht so einfach da reinspazieren! Wo ist meine Ledercouch auf der ich warten will. Wo ist der Empfangsdrache? Wo die Zutrittsberechtigungskarte? Unschlüssig stehe ich mit meinem Gepäck in dem Hausflur als plötzlich zwei Mitarbeiterinnen (das vermute ich jetzt) von draußen hereinkommen. Sie grüßen mich sehr freundlich. Keine der Damen fragt mich, wer ich bin und wo ich hin will, obwohl ich offensichtlich durch mein Gepäch nicht von hier sein kann. Bevor ich noch fragen kann, sind sie verschwunden.

Hilfe! Wo kann ich mich anmelden? Ah, da kommt ja wieder jemand. Ein netter Herr. Ich frage ihn, wo ich mich anmelden kann, ich hätte einen Termin bei Herrn XY. Entgeistert sieht mich der Herr an und faselt dann etwas, dass er selber nur ein Besucher sei und dann verschwindet er.

Ich schaue noch einmal genau, ob ich etwas übersehen habe und finde tatsächlich am Boden (!) vor der Vitrine mit dem Motor einen A4-Zettel in einem Glasständer mit dem Titel „Informationen für Besucher“. Die Schrift ist so klein, dass ich mich hinknien muss, um es lesen zu können. Gleich nach dem Punkt „Betreten auf eigene Gefahr“ finde ich eine Information, die mich schallend lachen lässt: „Betreten Sie bitte nur Bereiche, für die Sie sich angemeldet haben.“ Würd ich ja gerne!
Nächster Punkt: „Wir möchten Sie als Gast oder Besucher erkennen. Tragen Sie bitte Ihren Besucherausweis sichtbar offen.“ Gerne! Muss ich mir den vorher selber basteln?
Dann noch die freundlichen Hinweise, dass ich über 14 Jahre sein muss, um das Gebäude betreten zu dürfen (das geht sich grad mal aus), dass man in diesem Gebäude das Wort „Werksspionage“ kennt und man deshalb nicht filmen darf und – das allerwichtigste meiner Meinung nach: dass man Tiere nicht mitbringen darf. Gut, dass ich meinen Vogel daheim gelassen habe.

Nun ist es aber Zeit und ich wage den Zutritt. Ich steige die Treppe hinauf in den ersten Stock. Da! Eine Mitarbeiterin! Ich grüße freundlich und frage höflichst nach, wo ich Herrn XY finde (damit sie weiß, dass ich hier nicht einfach herumstreune). Verdutzte Blicke. Der Herr ist ihr nicht bekannt (er ist ja nur der Leiter des Zentraleinkaufs aller Niederlassungen in Deutschland und seit 20 Jahren dort beschäftigt). Also tappse ich in den zweiten Stock und finde ihn wie unten auf der Tafel beschrieben.

Mich erwartet ein herzliches, nettes Gespräch mit einem äußerst kompetenten und umgänglichen Herren, der auf meine vorsichtige Anfrage, wieso es denn in einem derartigen Konzern so wenig Sicherheitseinrichtungen geben kann, nur lächelt und mir erklärt, dass es in den wichtigen Bereichen eh solche Kontrollen gäbe, aber hierher in dieses Relikt von Bürogebäude verschlägt es sonst ja niemanden.

Ich finde, dass das eine sehr charmante Einstellung ist, die ich sonst nur aus Österreich kenne. Kein Werksspion der Welt würde annehmen, dass es so einfach sein könnte… Und scheinbar funktioniert diese Einstellung auch.

Es geht auch ohne Paranoia.

Eure
Astrid