Gekonnt oder nur gewollt? Bayerns Management der Coronakrise aus Sicht eines Business Continuity Managers.

SECTANK Bug

Der neuerliche Lockdown ab 2.11.2020 hat uns dazu bewogen, das Management der Coronakrise in Deutschland genauer unter die Lupe zu nehmen. Da sich der Freistaat Bayern immer wieder als Vorreiter in Szene gesetzt hat, fragen wir uns: machen Herr Söder und sein Team aus methodischer Sicht einen guten Job?

Dazu wollen wir uns die Brille eines Business Continuity Managers aufsetzen. Wir nehmen für einen Moment an, dass Bayern ein Unternehmen sei. Auf Basis öffentlich verfügbarer Informationen führen wir dazu einen kurzen Faktencheck durch und fragen uns: was läuft gut – wo gibt es noch Luft nach oben? Als Bewertungsgrundlage ziehen wir die in der IT-Notfallplanung beziehungsweise dem BCM (Business Continuity Management) gängigen Standards heran, insbesondere den BSI-Standard 100-4. Im Fokus steht das methodische Vorgehen und nicht das medizinisch-virologische Detail.

Wir schauen uns nun die Krisenvorsorge und die Krisenbewältigung durch den Freistaat Bayern genauer an.

Was bisher geschah – ein zeitlicher Überblick

Der erste bestätigte Coronafall in Deutschland trat am 27.01.2020 in Bayern auf. Zunächst beschränkten sich die weiteren Fälle auf das engere Umfeld dieses Patienten. Mit den Faschingsferien Ende Februar stiegen die Fallzahlen rapide an und waren nicht mehr eingrenz- bzw. rückverfolgbar. Am 16.03.2020 rief Bayerns Innenminister den Katastrophenfall aus, gefolgt von Ausgangsbeschränkungen ab 20.03.2020. Ende Mai wurde eine Lockerung der Ausgangsbeschränkungen und sonstigen Corona-Maßnahmen beschlossen, gefolgt von der Aufhebung des formellen Katastrophenfalls am 16.06.2020. Bis Ende Oktober wurden die Maßnahmen situativ und räumlich begrenzt ergriffen, insbesondere in Abhängigkeit der sogenannten 7-Tage-Inzidenz. Inzwischen sind mit dem Lockdown „light“ bundesweit mehr oder weniger einheitliche Maßnahmen auf den Weg gebracht worden, um den neuerlichen Anstieg der Infektionszahlen einzudämmen.

Krisenvorsorge

Die Krisen- bzw. Notfallvorsorge umfasst alle planerischen Aktivitäten, die vor dem Eintritt des Pandemieszenarios durchgeführt und abgeschlossen sein müssen. In Deutschland manifestiert sich das im Nationalen Pandemieplan des Robert-Koch-Instituts (RKI).

Der Nationale Pandemieplan (NPP) besteht aus zwei Teilen: In Teil 1 (Stand 2017) werden vor allem die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und die hierfür zuständigen Institutionen benannt, Teil 2 (Stand 2016) enthält die wissenschaftlichen Grundlagen für die in Teil 1 gewählten Maßnahmen. Im Frühjahr 2020 wurde eine Aktualisierung des Nationalen Pandemieplans begonnen.

Die Konkretisierung der Pläne erfolgt auf Ebene der Bundesländer. Der „Bayerische Influenzapandemieplan“ stammt noch aus dem Jahr 2006 und wurde im Februar unter dem Eindruck zunehmender Infektionszahlen allem Anschein nach hastig aktualisiert, um zumindest die Informationen des NPP aus 2016 zu berücksichtigen. Das Dokument verfügt über keine Versionshistorie, so dass nicht nachvollziehbar ist, auf welchem zeitlichen Stand die einzelnen Informationen sind.

Surveillance, Diagnostik und Meldewesen

Sowohl im NPP als auch im Bayerischen Influenzapandemieplan sind Optionen für die Surveillance des Krankheitsgeschehens, die Diagnostik und das Meldewesen skizziert. Bundesweit gibt es einen bunten Strauß an Systemen und Prozessen, in Bayern gibt es u.a. das Bayern Influenza Sentinel – BIS.

Kontinuitätsstrategien

Kontinuitätsstrategien betreffen zum einen infektionshygienische Maßnahmen und medizinische Versorgung, zum anderen die Aufrechterhaltung kritischer Infrastrukturen und der Verwaltung und Unternehmen. Hygienemaßnahmen und medizinische Versorgung sind in den Pandemieplänen ausführlich beschrieben, ebenso Aspekte antiviraler Arzneimittel und von Impfungen.

Der Bayerische Pandemieplan enthält ausführliche Zahlen über staatliche Bevorratung von antiviralen Arzneimitteln. Die Zahlen sind offenbar mehrere Jahre alt und nicht relevant, da die genannten Arzneimittel im Falle von COVID-19 nicht wirksam sind.

Die Anwendung von persönlicher Schutzausrüstung wird im Pandemieplan beschrieben und gefordert. Allerdings wird die Verantwortung für die Bevorratung stillschweigend in die Hände der Kliniken, Pflegeheime und Arztpraxen gelegt. Dies ist ein Versäumnis, sind doch gerade Kliniken und Pflegeheime inzwischen stark auf betriebswirtschaftliche Kennzahlen getrimmt – hier werden eher keine Investitionen in Vorräte getätigt, die sehr selten benötigt werden und nach Verfallsdatum unbenutzt entsorgt werden müssen. Eine heimische Produktion von Schutzausrüstung im Auftrag des Freistaats wird im Plan nicht erwogen.

Die Pandemieplanung außerhalb des medizinischen Sektors ist kurz gehalten. Dies betrifft leider auch nichtmedizinische Einrichtungen in staatlicher bzw. öffentlicher Hand. Einen Plan für die Krisenvorsorge in Schulen beispielsweise gibt es im Februar 2020 nicht, und daher auch keine IT-Infrastruktur und Personalressourcen, die „Home Schooling“ reibungslos ermöglichen könnten.

Notfallübungen und -tests

Notfallübungen und -tests dienen dazu, die im Pandemieplan beschriebenen Vorgehensweisen und Vorgaben einer praktischen Prüfung zu unterziehen. Der Bayerische Pandemieplan enthält keine Inhalte zu Übungen und Tests.

Kontinuierliche Verbesserung

Kontinuierliche Verbesserung eines Plans wird erreicht, indem er zyklisch auf den Prüfstand gestellt und um neue Erkenntnisse ergänzt wird. Der Bayerische Pandemieplan enthält keine Informationen zum Aktualisierungszyklus. Die letzte Fassung wurde offenbar seit 2006 nur unwesentlich aktualisiert. Ergebnisse aus Krisenübungen und -tests sind nicht erkenntlich in den aktuellen Plan eingeflossen; möglicherweise haben diese nie stattgefunden.

Notfallbewältigung

Sofortmaßnahmen und Eskalationsmodus

Sofortmaßnahmen und Eskalationsstufen müssen weitestmöglich vor dem Eintreten einer Krise definiert werden. Damit ist eine schnelle Handlungsfähigkeit im Notfall sichergestellt. Zum Beispiel würde man in Phase 0 Frühindikatoren für eine Krise bewerten, in Phase 1 steht die Krise unmittelbar bevor bzw. tritt ein und ein Krisenstab wird einberufen, in Phase 2 findet eine Verschärfung der Krise statt, etc. Für jede Phase sollte es spezifische Kriterien sowie ein „Drehbuch“ für konkrete Maßnahmen und Verantwortlichkeiten geben.

Die medizinischen Sofortmaßnahmen sind über die Versorgung in Kliniken abgedeckt. Der organisatorische Teil sollte Bestandteil übergreifender Katastrophenpläne im Freistaat Bayern sein. Eine Konkretisierung im Bayerischen Influenzapandemieplan ist nicht vorhanden.

Als wesentlicher Steuerungsparameter wurde im Frühjahr 2020 die Reproduktionszahl (R-Wert über sieben Tage) auserkoren. Die Reproduktionszahl R bezeichnet die Anzahl der Personen, die ein Covid-19-Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Sie soll bei maximal 1 liegen.

Seit Sommer 2020 – also fast ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie – konzentriert sich Bayern auf die Anzahl an Neuinfektionen auf 100.000 Bürger als Metrik. Örtlich eingegrenzte Maßnahmen werden auf Basis eines Ampelsystems festgelegt. Damit sind erstmals nachvollziehbare Eskalationsparameter festgelegt worden – wenn auch in sehr reduzierter Form.

Im Oktober 2020 stehen die Ampeln bundesweit fast flächendeckend auf rot. Wir befinden uns damit wieder in der Krise.

Bei COVID-19 handelt es sich um ein „neuartiges“ Coronavirus, so dass bestimmte Parameter wie z.B. Übertragungswege im Vorfeld unbekannt waren. Zugleich erklärt die Abwesenheit eines Sofortmaßnahmen- und Eskalationsplans im März 2020, wieso der Freistaat Bayern damals mehr oder weniger übergangslos vom Aufruf zu freiwilligen Selbstbeschränkungen zum totalen Lockdown umgeschaltet hat.

Die im Pandemieplan eher allgemein formulierten Maßnahmen rund um Surveillance, Diagnostik und Meldewesen mussten in den ersten Wochen und Monaten – im Rahmen der Krisenstabsarbeit – erst konkretisiert und erprobt werden. Damit ging viel Zeit verloren, und es ist viel Kollateralschaden im medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Sinne entstanden.

Wirksamkeitsmessung der Maßnahmen und Verbesserung (z.B Schule, Testen, Digitalisierung)

Bayern hat zwischen März und Juni 2020 fast im Wochenrhythmus neue Maßnahmen ausgerufen oder bestehende modifiziert. Die Taktik folgt dem Prinzip „Trial and Error“. Für die Anfangsphase der Krise ist dies durchaus nachvollziehbar. Leider evaluiert der Freistaat Bayern die Umsetzbarkeit der Maßnahmen und deren Folgen im Vorfeld zu selten. Außerdem wurde die Zeit zwischen Juni und September allem Anschein nach nicht genutzt, um Erkenntnisse aus dem Frühjahr zu sammeln, Prozesse zu verbessern und für die zweite Welle gerüstet zu sein.

Beispiel Teststrategie im August 2020: Testzentren, Labore und Meldewesen waren überfordert und wurden durch Menschen überlastet, die in den meisten Fällen überhaupt keine Symptome hatten. Bis heute gibt es kein gut funktionierendes Test- und Meldewesen.

Auch im Schulbereich liegen Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander. Homeschooling, Digitalisierung und Lernplattform MEBIS waren die wohlklingenden Wörter der Politik. Bis heute sind sowohl die IT-Infrastruktur als auch die Ressourcen für den Aufbau pädagogischer Lernkonzepte für das Homeschooling ungenügend. Überspitzt formuliertes Zitat eines Schülers: „In meiner Schule ist das modernste Gerät der Tageslichtprojektor (sofern er nicht kaputt ist).“ Das Homeschooling hängt vom Engagement einzelner Lehrerinnen und Lehrer ab, die dies wiederum auch nur unter Einsatz der privaten IT bewerkstelligen.

Krisenkommunikation

Die Kommunikation in der Krise muss alle relevanten Zielgruppen adressieren. Diese sollen nicht nur informiert werden, sondern sie sollen die Risiken und Beschlüsse auch verstehen und die beschlossenen Maßnahmen auch mit umsetzen wollen.

Mit Beginn des Katastrophenfalls im März diesen Jahres hat ein enger Kreis um Ministerpräsident Söder die Krisenkommunikation begonnen. Der Krisenstab war insbesondere in der ersten Lockdown-Phase medial sehr präsent und hat gewiss in weiten Teilen der Bevölkerung Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Landes erzeugt. Zugleich erzeugt das sehr selbstbewusste Auftreten des Ministerpräsidenten eine hohe Erwartungshaltung. Hier kann der Schuss auch mal nach hinten losgehen.

Problematisch ist die hohe Frequenz der Änderungen bei den Regeln. Dies sorgt für ein erhebliches Maß an Verwirrung bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern. Aber auch Berufsgruppen und Vereine sind nach jeder Änderung erst einmal mit der Interpretation der neuen Regeln beschäftigt. Teilweise wurden auch Regeln in Pressekonferenzen falsch kommuniziert, so dass dies faktisch ein temporäres Ausübungsverbot einzelner Berufe bewirkt hat (Beispiel Ergotherapie).

Kritisch sind auch die verbalen Ermutigungen der bayerischen Regierung zur Denunziation mutmaßlicher Vergehen gegen die Corona-Regeln zu betrachten, sowohl im März als auch nun wieder im Oktober. Zudem wurden wiederholt falsche Informationen zu den Ursachen von lokalen „Hotspots“ verbreitet (Beispiele: vermeintliche Superspreaderin in Garmisch-Partenkirchen, Party-Hotspot in Berchtesgaden).

Wiederanlauf

Unter dem „Wiederanlauf“ sind alle Maßnahmen zu verstehen, die für die Rückführung vom Notbetrieb in den Normalbetrieb notwendig sind. Voraussetzung für den Wiederanlauf ist, dass die Ursache für die Krise verschwunden ist bzw. wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen wurden. Sonst mündet der Wiederanlauf direkt wieder im Notfall beziehungsweise in der Krise.

Mit Beginn der Pfingstferien hat Bayern eine umfassende Lockerung der Einschränkungen eingeleitet. Für den Bürger war nicht immer auf Anhieb ersichtlich, welches Regelwerk gerade gültig war, aber der kleinste gemeinsame Nenner waren die AHA-Regeln sowie die Beschränkung bei der Anzahl von Menschen bei Zusammenkünften und Veranstaltungen.

Als Folge der bereits seit September drastisch zunehmenden Infektionszahlen gibt es nun ab 2.11.20 einen bundesweiten Lockdown „light“. Wir befinden uns also wieder zurück im Krisenmodus.

Die Suggestion des Ministerpräsidenten, dass nach Ende des neuerlichen Lockdowns ein entspannteres Weihnachten zu erwarten ist, ist aus Sicht eines Notfallbeauftragten (BCM-Managers) nicht nachvollziehbar. Man muss davon ausgehen, dass nach einer kurzen Entspannungsphase wieder der Rückfall in den Krisenmodus erfolgt.

Sinnvoller wäre es, eine für das medizinische Versorgungssystem, für die Menschen und für die Wirtschaft akzeptable „Notbetriebsphase“ zu definieren, die bis weit in das Jahr 2021 hinein geplant wird.

Fazit

Mit Blick auf die Notfallvorsorge muss festgehalten werden: Der Bayerische Influenzapandemieplan wurde offenbar nicht mit dem Hintergedanken geschrieben, dass er irgendwann mal zum Einsatz käme.

Besonders folgende Aspekte vermissen wir:

  • Testen wesentlicher Abläufe auf Praxistauglichkeit, zum Beispiel Meldewesen
  • Blick über den bayerischen Tellerrand hinaus, z.B. staatliche Bevorratung von Schutzausrüstung bei globaler Pandemie und Wissenstransfer aus asiatischen Ländern (Stichwort SARS)
  • Funktionsfähige IT-Unterstützung in wichtigen Bereichen inkl. Meldewesen, Tracking von Infektionen und Homeschooling
  • Regelmäßige Aktualisierung des Plans um neue Erkenntnisse und beste Praktiken

Bei der Notfallbewältigung dominiert augenscheinlich stark die Krisenstabsarbeit der Bayerischen Staatsregierung. Verbesserungspotenziale sehen wir in folgenden Bereichen:

  • Bayern (ebenso wie die anderen Bundesländer) hat sich damit schwer getan, verlässliche und planbare Eskalationsprozeduren festzulegen. Das Ampelsystem ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.
  • Umsetzbarkeit und Wirksamkeit der von der Regierung ersonnenen Maßnahmen werden weder im Vorfeld noch im Nachgang ausreichend geprüft.
  • Die hohe mediale Präsenz des Krisenstabs hat in der Bevölkerung viel Aufmerksamkeit für die Dramatik der Situation erzeugt. Die hohe Frequenz der Regeländerungen und teilweise auch ihre Widersprüchlichkeit stiften vorrangig Verwirrung.
  • Für die kommenden 12 Monate gibt es keine Strategie. Die Rückführung Bayerns vom Krisenmodus in eine Art langfristigen moderaten Notbetriebs ist nicht gelungen. Die Entscheidungen wirken sehr digital – ein ständiges Hin- und Herpendeln zwischen Lockdown und Erleichterungen dürfte die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung gefährden.

Für die Behandlung der Corona-Krise gibt es kein Patentrezept – zu komplex ist deren Natur im Vergleich zu einem unternehmensinternen und lokal begrenzten Notfallszenario. In so einer Krise ist es angebracht, schnelle Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen. Das ist in Ordnung, solange man aus seinen Fehlern lernt und der kontinuierliche Verbesserungsprozess Bestandteil der Krisenstabsarbeit ist.

Links (abgerufen am 01.11.2020):

Influenza-Pandemieplanung (Seite des RKI, inkl. NPP) – https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/I/Influenza/Pandemieplanung/Pandemieplanung.html?nn=2370434
Bayerischer Influenzapandemieplan – https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2020/02/influenza-bayern.pdf
Notfallmanagement nach BSI-Standard 100-4: https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/ITGrundschutz/ITGrundschutzStandards/Umsetzungsrahmenwerk/umra_node.html
Die Superspreaderin? https://www.sueddeutsche.de/bayern/garmisch-partenkirchen-corona-superspreaderin-konsequenzen-1.5030362 
Rehabilitation der Superspreaderin: https://www.br.de/nachrichten/bayern/corona-in-garmisch-kein-beleg-fuer-superspreader-vorwurf,SEcWWSQ
Party in Berchtesgaden? https://www.br.de/nachrichten/bayern/party-als-corona-herd-berchtesgadener-landrat-kontra-soeder,SDxbjG5