In 20 Jahren werden Systeme zum “Predictive Policing” so normal sein wie die Wettervorhersage

Interview mit  Christian Dornacher, Director, Storage and Analytics Solutions EMEA bei Hitachi Data Systems

 

Wie kann ein Computerprogramm Verbrechen vorhersagen?

Es gibt eine große Menge an öffentlichen Daten, die zu diesem Zweck genutzt werden kann. Für die Strafverfolgung besteht die große Herausforderung darin, all diese Daten in aussagefähige Erkenntnisse zu verwandeln. Also unterschiedliche Datensätze so miteinander abzugleichen, dass sich daraus ein Sinn ergibt. Ziel ist, nicht nur Erkenntnisse zu erlangen, sondern dass diese Erkenntnisse auch zu konkreten Handlungen führen.

Auf der obersten Ebene sind drei Komponenten erforderlich: Erstens die Fähigkeit, Daten aus unterschiedlichen Quellen schnell aufzunehmen und sicherzustellen, dass die Daten auf dem Laufenden bleiben. Zweitens braucht es ein flexibles Analysemodell, das die Einspeisung von Merkmalen aus dem gesamten Datensatz erlaubt, wie zum Beispiel von historischen Datenreihen zur Kriminalität. Damit können dann statistische Analysen zur Bestimmung einer granularen Bedrohungslage erstellt werden, ebenso wie eine Einschätzung der zugrunde liegenden Risikofaktoren. Schließlich ist es nötig, dass die gewonnenen Informationen auf einfache und anschauliche Weise visualisiert werden.

Die erste Komponente sorgt dafür, dass vielerlei unterschiedliche Datensätze aufgenommen werden können und dass diese Daten ständig aktualisiert werden, um deren Relevanz zu gewährleisten. Dies ist ein entscheidender Teil des Puzzles und für Organisationen der öffentlichen Sicherheit ist es oft am schwierigsten, diese Aufgabe fast in Echtzeit zu erreichen. Unsere Software, die  (HVS), nutzt Hitachi-Technologie, um wichtige Daten aus einer Vielzahl von Quellen kontinuierlich aufzunehmen und auf sichere Weise an einen zentralen Speicherort in der Cloud zu übertragen.

Die zweite Komponente bildet das Modell. Bei Hitachi haben wir uns für ein variantenreiches, räumlich-zeitliches Modell entschieden, das uns im Wesentlichen in die Lage versetzt, jedes beliebige Merkmal in das HVS-System aufzunehmen, bei dem wir einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung annehmen. Wenn wir beispielsweise bei einer Serie von sexuellen Übergriffen vermuten, dass es einen Zusammenhang mit polizeibekannten Sexualstraftätern geben könnte, können wir unserem Analysemodell das Register der Sexualstraftäter-Register als Merkmal selektiv hinzufügen. Das Modell wird diesem Merkmal dann eine Gewichtung zuordnen und der Nutzer kann schnell feststellen, ob es einen entsprechenden Zusammenhang gibt. Darüber hinaus wird jedem Stadtteil eine Bedrohungsstufe zugeordnet – wir bezeichnen das als „Bedrohungsoberfläche“.

Zur Visualisierung dieser Bedrohungsoberfläche bietet HVS einen hochflexiblen und raumbezogenen Lageplan. Dunklere Farben repräsentieren darin höhere relative Risikostufen und der Benutzer kann einen Schwellenwert wählen, zum Beispiel nur die 25 Bereiche einer Stadt anzeigen, in denen das Risiko sexueller Übergriffe am höchsten ausfällt. Wir können auch andere relevante Quellen einbeziehen, wie etwa Daten aus der Videoüberwachung oder frühere Vorkommnisse innerhalb dieser Bereiche und darum herum. Insgesamt stellen wir also Tools zur Verfügung, die Organisationen der öffentlichen Sicherheit viel proaktiver werden lassen.

Christian Dornacher - Hotachi Data Systems

Christian Dornacher – Hotachi Data Systems

Es ist leicht nachvollziehbar, dass bestimmte Datensätze für diese Art von Technologie hilfreich sind, etwa die frühere Kriminalität in einer definierten Nachbarschaft. Welche Art von Daten ist aber zur Vorhersage von Verbrechen geeignet, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind?

Die Strafverfolger könnten zuordnen, in welchen Nachbarschaften kriminelle Banden besonders verankert sind. Diese Daten können sehr nützlich sein, um die Bedrohungslage auf Basis der Banden-Standorte zu bestimmen. Darüber hinaus können andere Daten wie Wettervorhersagen, wirtschaftliche oder demografische Daten ebenfalls mit spezifischen Arten von Kriminalität in Verbindung stehen und im Rahmen des Modells mit genutzt werden.

Angesichts all der einbezogenen Daten stellt das ständige Überwachen und Vorhersagen von Kriminalität eine ziemlich große analytische Herausforderung dar. Wie verschaffen Sie all diesen Daten einen Sinn?

Mehr Daten erfordern schlicht mehr Rechenzyklen, und um unser Ziel zu erreichen, nutzen wir virtuelle Maschinen in der Cloud. Die Aufgabe des Modells besteht aber darin, dem Menschen zuzuarbeiten, so dass es kontinuierlich modifiziert und verbessert werden und sich im Laufe der Zeit zu einem zunehmend nützlichen Werkzeug für den menschlichen Nutzer entwickeln kann. Aus diesem Grund ist das Verständnis der zugrunde liegenden Risikofaktoren auch so wichtig. Wenn wir es mit Dutzenden von Variablen zu tun haben, muss die Software in der Lage sein dem Nutzer anzuzeigen, ob eine bestimmte Variable auf die Wahrscheinlichkeit eines bevorstehenden Verbrechens einen Einfluss hat.

Wann immer vorausschauende Polizeiarbeit in den Medien erwähnt wird, werden Vergleiche zum Film Minority Report herangezogen, der ein ziemlich erschreckendes Bild von dieser Technologie vermittelt. Hat diese Assoziation dazu geführt, dass der sinnvolle Einsatz dieser Technologie eingeschränkt wird?

Unser Modell zielt nicht wirklich auf Individuen ab, obwohl ein Individuum großen Einfluss auf eine bestimmte Art von Kriminalität haben könnte, etwa wenn ein Straftäter aus dem Gefängnis entlassen wurde und es danach plötzlich zu einem Anstieg von Autodiebstählen kommt. Dies sind Informationen, die das Modell zur Erkennung eines Zusammenhangs brauchen würde. Letztlich machen wir die Strafverfolger auf Basis realer Daten und historischer Entwicklungen aber ganz einfach darauf aufmerksam, wo sich in der Stadt mit höchster Wahrscheinlichkeit bestimmte Verbrechen ereignen werden, damit Ressourcen auf wirkungsvollere Weise zugeordnet werden können.

Damit ist nicht auszuschließen, dass diese Technologie – wie jede Technologie – mit Risiken verbunden ist. Was können Strafverfolger und Stadtverwaltungen unternehmen, damit diese Art von Werkzeug wirksam eingesetzt werden kann?

Es beginnt damit, dass diese Technologie akzeptiert wird. Die Budgets der öffentlichen Sicherheit halten nicht Schritt mit dem Bevölkerungswachstum und den allgegenwärtigen Gefahren, denen wir ausgesetzt sind. Diese Arten von Technologien werden heute und besonders in der Zukunft eine absolute Notwendigkeit darstellen, sowohl hinsichtlich gewalttätiger und gewaltfreier Verbrechen, als auch mit Blick auf den Terrorismus. So wie bei technologischen Innovationen der Vergangenheit, müssen wir den Vorgaben und Grundsätzen folgen, die zur Verringerung von damit verbundenen Risiken entwickelt wurden, und es gibt viele Organisationen, die diese Vorgaben und Grundsätzen heute nach wie vor weiterentwickeln. Ich bin fest davon überzeugt, dass Kriminalitätsmodelle in 20 Jahren ebenso alltäglich sein werden wie Wettervorhersagen.